Ungefragte Ratschläge einer Jüdischen (Mutter) für Europäische Aktivist:innen

Jüdische Stimmen bei einer Flashmob-Demonstration für einen Waffenstillstand in Palästina am Dienstag, 7. November, am Amsterdamer Hauptbahnhof. (Foto: Jan Kees Helms)

In den letzten Wochen haben sich viele Jüd:innen aus Angst vor Antisemitismus nicht öffentlich gegen Israel ausgesprochen, und viele Nicht-Jüd:innen äußern sich nicht zu ihrer Kritik an Israel, weil sie Angst haben, als antisemitisch abgestempelt zu werden. Die Angst vor Antisemitismus hat Herzls zionistischen Traum genährt. Dieser Traum hat sich in einen Albtraum verwandelt. Die Angst vor Antisemitismus nährt die derzeitige israelische Regierung. Antisemitismus ist eine der Waffen, mit denen das rassistische jüdische Nationalstaatsgesetz gerechtfertigt wird. Er ist auch ein Hindernis für den Frieden. Solange es Antisemitismus in der Welt gibt, so das Argument, brauchen Jüd:innen einen Staat, um sicher zu sein. Die Angst vor Antisemitismus macht die Hoffnung auf Frieden zunichte. Diese Angst hat mich viel zu lange zum Schweigen gebracht.

Vor fast einem Jahrzehnt habe ich zusammen mit anderen großartigen jüdischen Aktivist:innen Een Andere Joodse Stem gegründet. Seit ich nach Belgien gezogen bin, gab es fünf Kriege gegen den Gazastreifen (2006, 2008, 2012, 2014 und 2021) und endlose Formen von Gewalt und Ungerechtigkeit gegen Palästinenser:innen (sowohl durch das Militär als auch durch staatlich sanktionierte Siedler:innen). Ich hatte mich nie an die belgische Öffentlichkeit gewandt. Das hat sich in 2014 geändert. Weniger als ein Jahr zuvor hatte ich ein Kind verloren. Als ich sah, wie Eltern den Tod ihrer Kinder betrauerten, die an einem Strand in Gaza spielten, wurde mir klar, dass es zwar viele Todesfälle gibt, die ich nicht verhindern kann, aber es gibt noch viel mehr, die wir verhindern können. Wenn es in irgendeiner Weise dazu beitragen könnte, Gewalt und Ungerechtigkeit zu verhindern, wenn ich mich öffentlich gegen die Verbrechen Israels ausspreche, dann überwog meine Verantwortung, mich zu äußern, meine Angst. Sich in der Synagoge und in jüdischen Kreisen offen kritisch über Israel zu äußern, war einst eine sehr einsame Position (die schließlich zu meiner Exkommunikation führte). Das ist nicht länger der Fall. Viele Jüd:innen und Israelis stehen dem gegenwärtigen Regime kritisch gegenüber. Aber sie haben Angst, dies öffentlich zu sagen.

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Ich spreche mich jetzt aus, aber die Realität des Antisemitismus macht mich sehr zurückhaltend. Antisemitismus zu leugnen ist keine Option. Ich habe ihn in den letzten zwei Jahrzehnten gesehen, studiert und erlebt. Er existiert in vielen Formen und taucht in allen akademischen und politischen Kreisen auf. Er ist ein echtes Problem, in Belgien und in der ganzen Welt. Es ist wichtig, dass wir, die sich mit der Linken identifizieren, die wir uns als antirassistisch, antikapitalistisch und antikolonialistisch bezeichnen, uns ehrlich mit der Realität auseinandersetzen, dass es in unseren Kreisen Antisemitismus gibt – in der Vergangenheit wie in der Gegenwart. Wir müssen dies nicht nur tun um des Friedens im Nahen Osten willens, aber auch für Gerechtigkeit und Gleichheit in Europa. Lassen Sie mich erklären warum, und einige, wenn auch ungefragte, Ratschläge an europäische Akademiker:innen und Aktivist:innen geben. Für die Palästinenser:innen habe ich keine Ratschläge. Ich schäme mich nur, dass ich so lange geschwiegen habe.

Da Antisemitismus auch heute noch weit verbreitet ist, konnte Bibi Netanjahu, der am längsten amtierende Premierminister in der Geschichte Israels, ihn zu einer sehr mächtigen Waffe machen. Jüdische Angst und europäische Schuldgefühle lassen die Menschen schweigen. Und Schweigen ist Gewalt. Die Unterscheidung zwischen Kritik am israelischen Staat und Antisemitismus ist nicht leicht zu ziehen. Antisemitismus wurde von Israel und vielen anderen Staaten und Institutionen als Waffe eingesetzt, um legitime Kritik an der Regierung oder ihrer Politik sowohl von Jüd:innen als auch von Nicht- Jüd:innen zum Schweigen zu bringen. Um zu verstehen, wie dies in den letzten Jahrzehnten langsam und insgeheim geschehen ist, muss man mehr über die Kampagnen der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) erfahren, die Kritik an Israel als Antisemitismus definiert.

Diese Bewaffnung war das trojanische Pferd der Rechten, da sie von “guten progressiven Liberalen” in Regierungen und Universitäten institutionalisiert wurde. Teils um ihre Schuldgefühle zu lindern, teils um ihnen zu ermöglichen, nicht kritisch denken zu müssen. Für alle Institutionen, die das IHRA unterzeichnet haben, wird Kritik an Israel als Antisemitismus gezählt. Das bedeutet, dass die Statistiken über Antisemitismus nicht zuverlässig sind, was den Jüd:innen und der Realität des Antisemitismus weiter schadet. Wir müssen zwar immer vorsichtig mit unseren Quellen sein, doch ist dies derzeit besonders wichtig, da unsere Mainstream-Medien nicht genügend Raum für kritische Israelis und Kritiker:innen Israels geschaffen haben und Palästinenser:innin weiterhin dehumanisieren, indem sie ihre Geschichten auf Zahlen reduzieren.

Vor diesem jüngsten Krieg diente diese Bewaffnung dazu, palästinensische Künstler:innen, Aktivist:innen und Wissenschaftler:innen sowie diejenigen, die sie unterstützen, auszuschalten. Sie nahm ihnen das Recht zu sprechen, eine Stimme zu haben und gehört zu werden, und trug zu einer Kultur der Angst und Zensur bei. In den letzten Wochen ist das, was bisher „nur“ in einigen Teilen Europas zur Norm geworden war, weit verbreitet – das Verbot palästinensischer Stimmen, Flaggen und Slogans, die massive Überwachung oder das Verbot von Protesten. Der Antisemitismus ist so sehr zur Waffe geworden, dass das Tragen einer Kufiya ein potenzielles Verbrechen darstellt. Antisemitismus ist auch eine Waffe, die genutzt wird um die Linke zu spalten.

Wie kann man sich mit der Realität des Antisemitismus auseinandersetzen, ohne in diese Falle zu tappen? Wie kann man Israels koloniale Politik kritisieren, ohne unbewusst einen antisemitischen Diskurs zu reproduzieren? Ich gebe denjenigen, die jetzt Veranstaltungen organisieren, Petitionen schreiben und Proteste unterstützen, die Israels genozidale Handlungen anprangern und einen Waffenstillstand fordern, folgende ungefragte Ratschläge.

1. Erkennen sie in jeder Rede und in jedem Statement an, dass es keine Rechtfertigung für die schrecklichen Verbrechen der Hamas am 7. Oktober 2023 gibt. Machen Sie deutlich, dass wir diese Verbrechen nicht rechtfertigen, indem wir sie in einen Kontext stellen.

2. Erkennen Sie den tragischen Anstieg von Antisemitismus und Islamophobie in Europa in den letzten drei Wochen an und erkennen Sie, wie dies der Agenda der extremen Rechten dient, deren politische Macht ein Gespenst ist, das in den gegenwärtigen und kommenden Wahlen in Europa umgeht.

3. Setzen Sie Israelis nicht mit Jüd:innen gleich. Genau das tun die IHRA und Netanjahu. Homogenisieren Sie nicht alle Israelis. Es gibt viele kritische Israelis. Es gibt viele nicht-weiße Israelis.

4. Nachdem ich in letzter Zeit an einigen Protesten teilgenommen und viele Reden gehört habe, muss ich zugeben, dass es schwer ist, sich nicht die Frage zu stellen, was „From the River to the Sea, Palestine will be Free” für Israelis bedeutet? Wenn es bedeutet, dass israelische Jüd:innen nicht bleiben können, ist es antisemitisch – und das muss die Linke klarstellen und anprangern. Ich fordere die Europäer:innen, nicht die Palästinenser:innen, auf, dies aufgrund ihrer eigenen historischen Mitschuld und ihrer gegenwärtigen Verantwortung deutlich zu machen. Erkennen Sie die Shoah und die Nakba an, und Europas Mitschuld am Siedlungskolonialismus. Erkennen Sie die Mitschuld Europas an dem, was heute in Gaza geschieht, an, denn es sind nicht nur die USA, die Israel blindlings unterstützen.

5. Hinterfragen Sie die IHRA-Definition von Antisemitismus, wo immer sie verwendet wird, und informieren Sie sich aktiv über BDS.

6. Zu guter Letzt sollten Sie sich über die oben genannten Punkte und den größeren historischen Kontext, die Beziehung zum Rassismus, zum Siedlungskolonialismus und zum Kapitalismus informieren. Auf diese Weise können Sie sich Laut machen und zu Frieden und Gerechtigkeit beitragen, sowohl hier als auch im Nahen Osten.

Die Forderung nach einem Waffenstillstand ist kein Antisemitismus; sie ist die einzige Hoffnung für Israelis und Palästinenser:innen gleichermaßen. Es ist nicht antisemitisch, das, was der Staat Israel in den letzten 75 Jahren getan hat, Apartheid oder langsamen Völkermord zu nennen. Aber um diese Behauptungen aufstellen zu können, muss sich die europäische Linke mit der Realität des Antisemitismus in ihrer Mitte auseinandersetzen. Wenn sie das nicht tut, wird der Antisemitismus zur Waffe.

Anya Topolski

(Professorin für philosophische Ethik und politische Philosophie an der Universität Nijmegen und Gründerin der NGO Een Andere Joodse Stem.)